
Vorab: Ich bin in einer Familie groß geworden, in der Fußball nur deshalb eine Rolle gespielt hat, weil ich selbst gegen den Ball getreten habe. Meine Eltern kamen zu meinen Spielen und wenn bei Hallenturnieren mal wieder ein väterlicher Kombi oder ein mütterlicher Kuchen gebraucht wurde, waren meine Erzeuger immer an vorderster Front mit dabei. Aber den Klassiker – eingefleischter Fußball-Papa eicht den Sohnemann mit seinem Enthusiasmus für Verein xy – gab es im Hause Raack nicht. Ein letztes Beispiel für das schon beinahe beeindruckende Fußball-Desinteresse meines Vaters gefällig? Nun, wer klingelte in der 30. Minute des EM-Endspiels 2012 auf meinem Handy durch, um „sich mal wieder zu melden“? Mein alter Herr.
Natürlich, Welt- und Europameisterschaften wurden früher auch bei uns gemeinsam geschaut, ebenso Wimbledon-Nachmittage mit Boris Becker. Ich hockte dann, lediglich von schnellen Pinkelpausen unterbrochen, von Anfang bis Ende standhaft vor der Glotze, während mir meine Familienmitglieder in unregelmäßigen Abständen Gesellschaft leisteten. Selbst mein Vater. Ich erinnere mich zum Beispiel noch ziemlich gut daran, wie wir gemeinsam den erfolgreichen Sololauf eines jungen Engländers namens Michael Owen im WM-Sommer 1998 gegen Argentinien bestaunten und mein Vater anschließend anerkennend raunte: „Das war aber ein dolles Ding!“
Fernseh-Modell: wird nicht mehr gebaut
Doch für solch schnöde Geschichten wie ein Achtelfinal-Rückspiel im UEFA-Cup ließ sich nun wirklich niemand aus meiner Sippe erwärmen. Um mir am 9. März 2000 die Aufholjagd von Werder Bremen gegen den AC Parma zu geben, musste ich schon mit der Glotze in Vadderns Arbeitszimmer vorlieb nehmen. Modell: wird nicht mehr gebaut, geradeso Farbfernsehen. Kaum größer als unser Toaster.
Während also meine Geschwister im Wohnzimmer auf unserem gemütlichen Sofa lümmelten und sich von „Asterix erobert Rom“ oder „Das Krokodil und sein Nilpferd“ berieseln ließen, saß ich, mit Käsebroten bewaffnet, auf dem ungemütlichen Sofa im Nebenraum. Werder hatte das Hinspiel gegen Parma mit 0:1 verloren. Die Hoffnung aufs Viertelfinale hatte ich längst aufgegeben.
Dazu eine Rechtfertigung. Ich bin Jahrgang 1983. Im März 2000 war ich 16 Jahre alt. Seit etwa zwei Jahren fuhr ich unregelmäßig ins Weserstadion. Die großen Rehhagel-Zeiten kannte ich nur vom Hörensagen. Meine Werder-Realität bestand aus Namen wie Dixie Dörner, Felix Magath, Mike Barten, Rade Bogdanovic oder Juri Maximov. Von der Sexyness der frühen Nuller-Jahre war Werder Bremen im Frühjahr 2000 noch so weit entfernt wie Willi Lemke von einer Afro-Frisur.
Apropos sexy, bei Parma spielten damals Gigi Buffon, Hernan Crespo, Fabio Cannavaro, Dino Baggio und Lilian Thuram. DAS war sexy. Sexy im Sinne von: Mein Gott, warum spielen diese Granaten nicht für meinen Verein? Kürzen wir es ab: Werder war für mich an diesem 9. März 2000 graumäusiger Außenseiter gegen die funkelnde Star-Truppe aus Italien. Selbst die Käsebrote schmeckten erstaunlich hoffnungslos.
Und dann? Galoppierte Werder plötzlich wie im Wahn in Richtung Parma-Torwart Buffon, ein kleiner Vorgeschmack auf das, was Thomas Schaaf mit dieser Mannschaft in folgenden Jahren noch anrichten sollte. Offensivfußball, aber so was von. Christoph Dabrowski schoss nach 30 Minuten das 1:0 und ich brüllte das altersschwache TV-Gerät zusammen. Keine zwei Minuten später hatte Mario Stanic schon ausgeglichen, na klar. Doch Marco Bode gelang kurz vor der Pause das 2:1 und ich lief brüllend in die Küche, um mir das nächste Käsebrot zu belegen. Es schmeckte nach Sensation.
Anzeichen einer Europapokal-Geilheit
Tatsächlich: Weil der spätere Weltfußballer Fabio Cannavaro nach 66 Minuten den Ball ins eigene Tor bugsierte und Frank Rost anschließend mit seinen Klappspatengroßen Händen seinen Kasten sauber hielt, hatte Werder doch tatsächlich Parma aus dem Wettbewerb geschmissen. Die letzten Minuten habe ich als fibrige Erregung in Erinnerung. Das ungemütliche Sofa längst gegen eine Art Raubtier-kurz-vor-dem-Sprung-Haltung eingetauscht, einen halben Meter vor der Glotze hockend, die Stimme vom dauernden Gekreische kehlig, das Herz vor lauter Aufregung im Drum’n’Bass-Modus. Typische Anzeichen einer Europapokal-Geilheit. Hier, in Vadders Arbeitszimmer.
Kurz vor dem Schlusspfiff leistete sich Thomas Schaaf einen für seine Verhältnisse beinahe arroganten Schulterklopfer für die eigene Leistung. Er wechselte Ailton aus und schickte dafür Björn Schierenbeck aufs Feld. Björn Schierenbeck! Gibt es einen Fußballer, der noch mehr für die von Arnd Zeigler und seinen „Original Deutschmachern“ besungenen „Jahre voller Frust“ steht, als den etwa drei Meter großen Rotschopf Schierenbeck? Ich glaube nicht. Doch Schaaf wechselte ihn einfach ein, an jenem 9. März 2000. Zwischen all den Posterboys aus Parma stakte für wenige Minuten Björn Schierenbeck durchs Weserstadion. Schaaf hätte sich auch einfach vor die Trainerbank der Gäste stellen und seinem Kollegen eine Nase drehen können. Die Wirkung wäre dieselbe gewesen.
Dann war es vorbei. Ein letzter erschöpfter Jubelschrei und ich sackte in mir zusammen. Ich schaltete den Fernseher aus. Auf dem Flur begegnete ich meinem Vater. „Und, gewonnen?“, fragte mich der Ignorant. Ich hob mit letzter Kraft den Daumen und fiel in selige Ohnmacht. Gut, das ist gelogen. Aber es wäre eigentlich der passende Abschluss für diesen Abend gewesen.
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