Argen­ti­nien
El Fortin
Copa Libert­adores
30.000 Zuschauer

»Mein Lieb­lings­sport ist Bas­ket­ball«, erzählt Sergio, der Taxi­fahrer, frei­mütig und weiß nicht, dass er damit nach wenigen Minuten auf argen­ti­ni­schem Boden eine gern geglaubte Illu­sion zer­stört. Jeder Gaucho sei glü­hender Fan des runden Leders, sug­ge­riert jeg­liche Lite­ratur über den argen­ti­ni­schen Fuß­ball. Nach einer kurzen, ungläu­bigen Pause schiebt er aber nach: Fuß­ball finde ich auch gut. Boca ist mein Lieb­lings­club.“ Erleich­te­rung. Auch Sergio ist zumin­dest ein biss­chen fut­bo­lero, fuß­ball­ver­rückt.
Fuß­ball ist mit weitem Abstand die Nummer eins in der Gunst der Argen­ti­nier. Die beiden wich­tigsten Clubs des Landes sind die Boca Juniors, der Verein von Diego Mara­dona, und River Plate. Beide natür­lich aus Buenos Aires. Knapp 40 Pro­zent der Argen­ti­nier bekennen sich zu Boca, etwa 30 Pro­zent unter­stützen River. Das Derby zwi­schen den Erz­ri­valen, der Super­clà­sico, wurde vom bri­ti­schen Blatt Observer gar zum spek­ta­ku­lärsten Sport­er­eignis welt­weit gekürt.

Dieses Derby ver­setzt ganz Argen­ti­nien, wo nach jeder Halb­serie ein Meis­ter­titel ver­geben wird, in Aus­nah­me­zu­stand. Die Bom­bonera (Pra­li­nen­schachtel), das Sta­dion von Boca, gilt wegen ihrer steilen Tri­bünen und der ein­zig­ar­tigen Atmo­sphäre als eine der wich­tigsten Spiel­stätten Süd­ame­rikas. Doch authen­ti­schen Fuß­ball inklu­sive ganz spe­zi­eller Fan­kultur kann man in Buenos Aires auch in anderen Sta­dien erleben.
Zum Bei­spiel bei Vélez Sars­field. Der Hei­mat­verein der Ex-Nürn­berger Zau­ber­maus Sergio Zarate spielt heuer inter­na­tional. Zum Heim­spiel in der Copa Libert­adores, der Cham­pions League Süd­ame­rikas, gegen die Bra­si­lianer von Cru­zeiro Belo Hori­zonte begrüßt der Club aus dem Stadt­teil Liniers rund 30.000 Zuschauer. Damit ist El Fortin, die Fes­tung, nur zu zwei Drit­teln gefüllt. Aus­ver­kauft sind die Sta­dien in Buenos Aires auf­grund des umfang­rei­chen Fuß­ball­an­ge­botes ohnehin nur bei Derbys. Was in Deutsch­land ein Stim­mungs­killer wäre, hat in Argen­ti­nien keine nega­tive Wir­kung. Dafür sorgt die Barra Brava, ins Deut­sche wohl am besten mit Wilde Bande“ zu über­setzen. Das sind die här­testen, die treu­esten, die fana­tischsten Fans. Bei jedem Profi-Club gibt es sie. Ihr Platz ist hinter dem Tor.

Vélez gehört nicht zu den Großen 5“, die lan­des­weit Fans haben. Neben Boca und River sind das die ebenso in Buenos Aires behei­ma­teten Ver­eine San Lorenzo, Racing Club und Inde­pen­di­ente. Die Sta­dien der beiden Letzt­ge­nannten, die das zweit­wich­tigste Derby des Landes spielen, liegen nur gut 100 Meter aus­ein­ander. Seit den Erfolgen in den 1990er Jahren gilt Vélez immerhin als die Nummer 6 im argen­ti­ni­schen Fuß­ball.
Beide Mann­schaften wärmen sich bereits auf, doch der zen­trale Block der Fan­kurve ist nur spär­lich gefüllt. Hat sich die Barra Brava von Vélez heute frei­ge­nommen? Natür­lich nicht. Kurz vor dem Anpfiff ziehen die Hart­ge­sot­tenen gemeinsam in ihren Block ein – und zwar mit den sprich­wört­li­chen Pauken und Trom­peten. Das ganze Sta­dion blickt auf die Kurve. Wer das noch nie gesehen hat, bekommt Gän­se­haut. Eine Block­fahne wird auf­ge­zogen, von oben nach unten sind breite Stoff­bänder gespannt. Es brennen ben­ga­li­sche Feuer. Von nun an wird gesungen, 90 Minuten und länger, ohne Unter­lass: keine Schlacht­rufe im Stak­kato son­dern melo­di­sche Lieder mit meh­reren Stro­phen. Die Leis­tung in der Kurve ist fast so wichtig, wie die Leis­tung auf dem Platz.
Auch auf der Gegen­ge­rade herrscht gelebte Sta­dion-Anar­chie. Dass die Plätze num­me­riert sind, inter­es­siert nie­mand. Man setzt sich hin, wo man Platz findet, auch auf die Trep­pen­stufen der Auf­gänge des recht­eckigen Beton­sta­dions. Bald steht man sowieso. Manche klet­tern auch auf die sta­chel­draht­be­wehrten Mauern mit Blick in den Sta­di­ongraben, der Spiel­feld von Tri­büne trennt und einige Meter tief ist. Angst vor einem Sturz hat offenbar nie­mand. Von Ord­nern gehin­dert werden sie auch nicht.
Der Schieds­richter pfeift an. Auch über die Gegen­ge­rade wird jetzt eine rie­sige Fahne gezogen. Alle sind nun unter den Vélez-Farben Blau und Weiß ver­eint. Kaum hat man wieder freie Sicht, gibt es schon den ersten Platz­ver­weis für die Gäste. Typisch süd­ame­ri­ka­ni­sche Härte eben. Eine wei­tere Hin­aus­stel­lung und zwei Vélez-Tore später, haben die Fort­i­néros mit 2:0 gewonnen.

Das hat Lust auf mehr gemacht. So geht es offenbar vielen deut­schen Fuß­bal­len­thu­si­asten. Sant­iago, der Touren in die Sta­dien orga­ni­siert, erzählt: Ich war mit Gästen aus Ham­burg in acht Spielen – in nur fünf Tagen.“ Das ist dann doch etwas viel, aber die Liga­partie zwi­schen dem großen San Lorenzo und dem Vor­ort­club Tigre muss noch sein. Das Spiel ist tech­nisch schlecht. Das erwartet man in Süd­ame­rika eigent­lich anders. Das lange hei­mat­lose und dafür häufig ver­höhnte Heim­team gewinnt in seinem einer Bruch­bude glei­chenden, aber erst 1993 erbauten Sta­dion mit 1:0. Wieder geht es ruppig zur Sache, erneut zwei Spieler müssen vor­zeitig zum Duschen. Auch im Nuevo Gasó­metro wird 90 Minuten lang gesungen, weil diesmal genü­gend Gäs­te­fans anwe­send sind natür­lich in beiden Kurven.

Doch die ein­zig­ar­tige Atmo­sphäre in den Sta­dien ist nur eine Seite des Phä­no­mens Barra Brava. Die Grup­pie­rungen haben oft mafiöse Struk­turen und sind in Drogen- und Waf­fen­handel ver­strickt. Immer wieder gibt es Tote bei Aus­schrei­tungen. Viele Club­funk­tio­näre erkaufen sich die Loya­lität der Barras durch Frei­karten und Bar­geld. Die Stel­lung der Gruppen in den Clubs illus­triert auch diese Anek­dote: Letzt­lich zwar ohne Erfolg, den­noch aber wohl welt­weit ein­malig ver­suchten die Fans von Gim­nasia y Esgrima aus La Plata, 60 Kilo­meter von Buenos Aires ent­fernt, ihr eigenes Team 2006 unter Gewalt­an­dro­hung zu zwingen, ein Meis­ter­schafts­spiel zu ver­lieren. Die erhoffte Nie­der­lage hätte den Erz­ri­valen Estu­di­antes den Titel gekostet.
Seit die Behörden stren­gere Sicher­heits­vor­keh­rungen treffen und die ver­fein­deten Fans strikt von­ein­ander trennen – die Heim­fans dürfen das Sta­dion erst ver­lassen, wenn die Gäs­te­an­hänger bereits in ihren Bussen sitzen –, gibt es weniger Gewalt zwi­schen den Gruppen. Dafür wird inner­halb der Barras Bravas jetzt blutig um die mit Geld und Macht ver­bun­dene Vor­herr­schaft gekämpft.
Aber trotz aller Abgründe im argen­ti­ni­schen Fuß­ball: Wer diesen Sport mag, muss Buenos Aires lieben.

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